Freitag, 7. November 2014

Versorgungsstärkungsgesetz – Wird die Versorgung der Bürger wirklich gestärkt?


Der Präsident des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen e.V. (BDC), Prof. Hans-Peter Bruch, nimmt dazu wie folgt Stellung:

Der Entwurf des Versorgungsstärkungsgesetzes versucht Fehlentwicklungen und Strukturverwerfungen im Medizinsystem, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, auszugleichen. Entscheidender Grund ist die demographische Entwicklung, welche die Sozialsysteme in sehr absehbarer Zeit an ihre finanziellen Grenzen führen wird. Die Vorgaben des deutschen Ethikrates lauten: Straffung der Organisation, Abbau von Überkapazitäten, Vermeidung von Verschwendung. Diese Vorgaben sollten eigentlich zu jeder Zeit gelten.

Aus Sicht der deutschen Chirurgen stellen sich die Entwürfe im Gesetz folgendermaßen dar:

Thema Wartezeiten: die Politik macht sich zum Anwalt der Patienten, folgt dabei wahltaktischen Überlegungen und schreibt die populistische Maßnahme der Praxis-Wartezeitenverkürzung in das Gesetz. Wer nicht zeitnah einen Termin bekommt, soll über die „Servicestelle“ einen Termin angeboten bekommen. Nur: Den müssen die Patienten annehmen. Die freie Arztwahl, ein hohes Gut im System der Freiberuflichkeit, ist damit außer Kraft gesetzt. Nach vier Wochen sollen Patienten ohne Termin das Recht haben eine Klinik aufzusuchen. Nur: wer soll den Patienten dort behandeln? Der Oberarzt, der dringend auf Station gebraucht wird? Zusätzliche Ärzte? Nichts steht im Entwurf wie, was durch wen finanziert werden soll. Die Kliniken selbst sind zum Notfall geworden, haben nicht genug Personal, rund 50 Prozent schreiben rote Zahlen, 30% stehen vor dem Aus! Wartezeiten-Verkürzung, wie? Das kann sich jeder selbst ausrechnen.

Thema Facharzt-Standard: Der Facharztstandard kann nach dem Gesetz-Entwurf in keiner Weise gewährleistet werden. Die von der Service-Stelle an ein Krankenhaus verwiesenen Patienten hätten nicht einmal die Garantie, dass sie dort von einem Facharzt behandelt werden. Dazu heißt es im Entwurf lapidar: „Die Behandlung im Krankenhaus hat nicht zwingend durch Ärzte mit einer abgeschlossenen Facharztweiterbildung zu erfolgen.“ Dies spricht für sich und kann nicht im Interesse der Patienten sein.

Thema: Zweitmeinung: die Politik wirbt für das Recht auf eine medizinische Zweitmeinung. Dies ist nicht neu. Wenn es um medizinische Entscheidungen geht, hat jeder Patient heute schon das Recht auf eine Zweitmeinung. Eine Zweitmeinung erfordert Zeit und sie ist eine medizinische Leistung, welche nur von Fachleuten erbracht werden kann. Dokumentation und Honorierung müssen geregelt werden. Außerdem muss man vermieden, dass der medizinische Dienst der Krankenkassen eine Zweitmeinung anbietet. Denn der medizinische Dienst ist Partei und nur allzu leicht könnten ökonomische Überlegungen im Sinne der Kosteneinsparung in die Auskünfte eingehen. Wollen Sie als Patient nicht einen frei wählbaren, unabhängigen Arzt für Ihre Zweitmeinung?

Thema Abbau/Aufkauf von Arztsitzen: die Politik will massiv Arztsitze abbauen. Betrachtet man die Verteilung von Facharztsitzen aus den verschiedenen medizinischen Gebieten, erkennt man unschwer über- und unterversorgte Regionen in Deutschland. Eine Vielzahl von Studien hat bewiesen, dass eine hohe Arztdichte unmittelbar mit steigenden Kosten im Gesundheitssystem verbunden ist. Deshalb scheint es auf den ersten Blick sinnvoll, staatlich regelnd einzugreifen, wenn eine adäquate Verteilung von Arztsitzen durch die ärztliche Selbstverwaltung nicht sichergestellt werden kann. Als Bürger muss man jedoch wissen, dass diese Regelung und deren Kosten so angelegt wurden, dass die Politik den Ärzten und letztlich den Patienten alle negativen Folgen auferlegt. Denn: Eine Facharztpraxis erfordert hohe Investitionen. Der Arzt erwirbt damit Eigentum. Dieses Eigentum ist durch Rechtsnormen geschützt. 


Der Verkauf der eigenen Praxis ist in der Regel ein geplanter Teil der Alterssicherung. Durch den Aufkauf von Arztsitzen in überversorgten Gebieten würden in relativ kurzer Zeit 25 000 Praxen wegfallen. Für die Patienten bedeutet dies weitere Wege, längere Wartezeiten, Verlust ihres Vertrauens-Arztes, Einschränkung der Arztwahl. Für die Ärzte bedeutet es einen unerhörten staatlichen Eingriff in die Eigentumsrechte. Wenn, wie zu vermuten, der Wert einer Praxis entsprechend der finanziellen Abschreibung definiert werden sollte, würde dies einer Zwangsenteignung gleichkommen. Eine vernunftgeleitete Regelung lässt sich bislang nicht erkennen. 

Der Vorsitzende der KBV Herr Kollege Gassen hat es auf den Punkt gebracht: "Wir sagen den jungen Kollegen und Kolleginnen Du sollst Dich in der Region niederlassen - wir wissen aber nicht, ob sich die Versorgungssituation ändert und wir die Praxis in zehn Jahren wieder aufkaufen müssen. Wir wissen auch nicht, ob die Kommune in ein oder zwei Jahren ein MVZ dort eröffnen wird." Wer wollte das Risiko einer Niederlassung dann noch eingehen? Und wie soll die flächendeckende, wohnortnahe Versorgung so gesichert werden?“

Thema „Medizinische Versorgungszentren“: Um die Versorgung in der Fläche zu gewährleisten, sollen die Gemeinden das Recht erhalten, MVZs zu eröffnen. Dieses Recht wurde jedoch den Kliniken längst schon zugestanden. Finanzierung? Fehlanzeige! Nicht für die Kliniken und schon gar nicht für die in entlegeneren Gebieten oft finanzschwachen Gemeinden. Was dies auf Dauer für die Patienten bedeuten würde ist nicht abzusehen. Mit freier Arztwahl oder kürzeren Wartezeiten ist dann jedenfalls nicht mehr zu rechnen.

Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet eine wirklich gute funktionierende Sektor übergreifende Versorgung - eine Verzahnung zwischen ambulantem und stationärem Sektor. Niedergelassene Fachärzte würden eng mit ihren Kollegen in den Kliniken kooperieren, ohne überflüssige Doppeluntersuchungen, zeitnah im Management. Der Patient würde sich aufgehoben fühlen und nicht wie ein Ping-Pong-Ball über sinnlose bürokratische Grenzen wechseln müssen.
Doch dafür ist eine Reihe von Maßnahmen nötig, die von Politik, Ärzteschaft, Krankenhausgesellschaft und Anderen vernunftgeleitet und mit Augenmaß angelegt werden muss. 

    1. Konzentration und Spezialisierung von Kliniken, Abbau von Bettenüberkapazitäten.
    2. Eine Sektor übergreifende Weiterbildung auf dem Weg zum Facharzt. Denn die Ambulantisierung der Medizin schreitet voran und immer mehr Inhalte der Weiterbildung können von den Klinken nicht mehr angeboten werden. Junge Ärzte müssen in Kliniken und Praxen weitergebildet werden.
    3. Damit wird eine Sektor übergreifende Bezahlung a) der Weiterbildung, b)medizinischer Leistungen zum Gebot der Stunde.
Eine flächendeckende wohnortnahe Versorgung, wie sie im Koalitionsvertrag definiert wird, kann nur auf diese Weise aufrechterhalten werden. Kleinere Kliniken werden nach der neuen Weiterbildungsordnung nicht mehr ausreichend Assistenten weiterbilden dürfen, um den Klinikbetrieb aufrechterhalten zu können. Ein Sektor übergreifendes Consultant System würde den Bestand sichern und dem Patientenwohl dienen. Damit wäre eine effektive Verzahnung der Sektoren gegeben.

Allein Patientenströme durch Gesetze lenken zu wollen, ohne die erforderlichen strukturellen Voraussetzungen zu schaffen, erscheint also wenig hilfreich - es sei denn man hätte die von Herrn Lauterbach seit langem geforderte Abschaffung des niedergelassenen Facharztes im Visier. Damit aber würde eine wesentliche Säule der hervorragenden ambulanten Patientenversorgung in Deutschland geopfert. Und dies wäre sicher nicht im Sinne der Patienten.

„Man dürfe nicht die Frösche fragen, wenn man den Sumpf austrocknen wolle“, ist eine oft gehörte aber nicht sonderlich kluge Begründung für politisches Handeln, beraten von ökonomiegetrieben Entscheidern, fernab von begründeten Argumenten medizinischer Fachleute.

Es bleibt im Sinne des Patientenwohles und einer guten medizinischen Versorgung, auch in Zukunft, zu hoffen, dass das Versorgungsstärkungsgesetz in seiner endgültigen Form, deutliche Modifikationen erfahren wird, die den begründeten Argumenten der Leistungsträger im Medizinsystem, namentlich der Ärzte, Rechnung tragen und damit vor allem auf das Patientenwohl abheben!